Agile Tretmühle: Warum fehlende Effektivität in Agilen Produktteams das Unternehmenswachstum bremst (Part I)
“Stell’ dir vor, du hockst in einer Falle und merkst es nicht.”
So könnte ich meine Eindrücke aus der Beobachtung vieler agiler Teams zusammenfassen, die alle nicht wirklich vorankommen. Ich bin kein Experte für Scrum oder Agile, ich bin maximal Anwender unterschiedlicher Methoden und meist eher Beobachter von außen.
Vielleicht sehe ich manche Dinge falsch oder du hast andere Beobachtungen – dann bereichere diesen Artikel gerne mit einem Kommentar.
Beitrag 1: Die strategische Ebene – finde heraus, warum agile Teams in einer Tretmühle stecken bzw. wie du interne Hürden besser erkennst.
Beitrag 2: Zeigt dir Lösungswege, wie du für mehr Effektivität in agilen Produktteams sorgst.
Beitrag 3: Scrum-Reality-Check: Welche Rolle ein Chief Product Officer im Unternehmen einnehmen sollte und wie du ein Gespür für Kundenbedürfnisse auf C-Level-Ebene etablierst.
Die Situation: Wenn agile Arbeitsweisen zum Businessmarathon werden
Vielleicht geht es dir ja ähnlich, wenn du in einem agilen Team arbeitest. Ich beobachte regelmäßig Szenen wie diese:
Es ist 11:34 Uhr und eigentlich sollte ich seit 4 Minuten im Sprint Refinement Meeting sein. Das letzte Meeting über unsere Tech Impediments hat einfach zu lange gedauert. Endlose Diskussionen über unser Tech Debt. Die Roadmap ist durchgeplant, unsere Velocity stimmt einfach noch nicht. Wie auch? Vor lauter Meetings schaffe ich es auch nicht wirklich gut, an den relevanten Themen zu arbeiten. Unser Management will die nächsten Sprints ein paar “strategisch wichtige Features” shippen. Ich arbeite an drei wichtigen Themen gleichzeitig. Es geht immer noch nicht schnell genug. Dabei war das Release letzte Woche schon echt auf Kante genäht, eigentlich brauchen wir noch einen Sprint, um das ganze ordentlich abzuliefern.
Nächste Woche steht dann schon wieder OKR-Planung an, dabei hetzen wir den Key Results für das aktuelle Quartal noch hinterher. In den letzten drei Jahren hat das Management-Team insgesamt vier mal gewechselt. Jeder denkt, er kann es jetzt besser und bringt mal ein wenig mehr “Drive” rein. Eine Reorg folgt der anderen.
Die Shareholder machen Druck, ich kann das ja verstehen. Die wollen Wachstum und Profit sehen, wir hinken der Entwicklung gefühlt ein bis zwei Jahre hinterher.
Was soll’s, das Team ist ja motiviert. Wir stimmen immer Alles gemeinsam ab, das Team hält zusammen. So soll es sein – ich freue mich schon auf unseren Ideation-Workshop am Nachmittag. Wobei, da müsste ich eigentlich mal was Essen und aus dem Refinement werde ich auch nicht pünktlich rauskommen. Ahhhrg!
Das Gleiche gilt natürlich auch, wenn du agile Team führst und das alles eher aus einer anderen Perspektive beobachtest.
Dann sind es nur andere Meetings – und gleichzeitig bist du, der sich selbst zerreibende Puffer, zwischen dem Druck des Top-Managements und der Überlastung der Teams.
Die Symptome: der “Brigitte-Test” zum agilen Alltag
eher nein | eher ja | |
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Ich verbringe +50% meiner Zeit in Meetings | ||
Wenn wir ein Feature geshippt haben, geht es weiter zum nächsten Thema auf der Roadmap | ||
Viele Ideen in unserer Roadmap werden uns vorgegeben | ||
Wir hinken unseren Zielen oft hinterher | ||
Die Backlogs sind voll mit Kleinkram | ||
Wir haben gar nicht genug Zeit, um unsere Ideen und Features mit Hilfe von Experimenten zu validieren | ||
Die Discovery kommt gefühlt immer zu kurz | ||
Für Iterationen und Optimierungen gibt es zu wenig Priorität, Zeit oder Fokus | ||
Kontrastreiche Änderungen sind schwierig umzusetzen, wir müssen uns mit vielen Stakeholdern abstimmen | ||
Wir fokussieren uns als Team lieber auf die Metriken und Micro-Conversions, die wir wirklich beeinflussen können | ||
Wir können die Outcomes unserer Arbeit eigentlich gar nicht direkt messen | ||
Die meisten Ziele und Key Results fokussieren sich auf die Fertigstellung von Features (Output) | ||
Wenn die ganzen Abhängigkeiten nicht wären, würde ich ganz andere Dinge angehen | ||
Wir machen zwar viel User Research, ich habe jedoch weniger als 10% Zeit dafür, live dabei zu sein, ich schaue mir bei Bedarf die Ergebnispräsentation später an | ||
Es gibt ab und zu unterschiedliche Ideen, wie wir etwas umsetzen, dann machen wir einen A/B-Test um mit den Daten zu sehen, welche die bessere Idee gewesen ist | ||
Mit echten Kunden habe ich selten direkten Kontakt |
Du hast weniger als 4x „eher Ja“ angekreuzt? Glückwunsch, hol’ dir lieber einen Kaffee anstatt das hier weiter zu lesen.
Falls du mehr als 4x “Eher Ja” angekreuzt hast, gibt es stichhaltige Symptome für fehlende Effektivität.
Die Organisation in der du arbeitest, legt ihren Fokus auf Effizienz, also darauf, “die Dinge richtig zu tun”.
Doch die Kräfte, die am Werk sind, verhindern das Vorankommen im Sinne von “die richtigen Dinge” tun. Dabei ist es prinzipiell egal, ob die Organisation agil ist oder nicht – es ist rein die Größe und die Komplexität, manchmal auch falsche Ziele oder ein falscher Managementstil, die es der Effektivität schwer machen.
Falls du mehr als 8x “Eher Ja” angekreuzt hast, ist das Problem wirklich mehr als deutlich, es könnte auch als pathologisch bezeichnet werden.
Das eigentliche Problem: Effektivität und Effizienz
Es sind zwei Kräfte in jeder Organisation am Werk – das Streben nach Effizienz und Effektivität. Du kennst das, wenn mal wieder ein Geschäftsführer eine wilde Idee hat und sie mit viel Druck umgesetzt haben möchte – das ist der Wunsch nach Effektivität. Oder wenn jemand Abläufe optimieren möchte – das ist der Wunsch nach Effizienz.
Solange eine Organisation klein und jung ist, gibt es viele gute Ideen, wenig Abstimmungsaufwand und geringe Komplexität. Die Effektivität kann sich ungehindert entfalten.
Doch sobald es in die “Skalierung” geht und die Organisation immer größer wird, gibt es immer mehr Abstimmungsbedarf, immer mehr Teams – die Verantwortungsbereiche, an denen gearbeitet wird, werden durch eine Granularisierung immer kleiner. Viele agile Teams können zwar ihre Effizienz steigern (“Velocity”, “Story Points”, “Get Shit Done”), aber es fällt schwer, die Effektivität zu erreichen, die es zu Beginn vielleicht einmal gab. Dabei sollten agile Methoden, wie Scrum, ursprünglich die Effektivität steigern.
“Ohne Effektivität ergibt Effizienz wenig Sinn, das wissen wir schon seit Peter Drucker.”
Sven-Christian Andrä – Chief Digital Officer (CDO) at Klingel Gruppe
Doch was genau passiert, wenn Effektivität verloren geht?
Schauen wir uns einfach an, warum die Kombination aus Effizienz und Effektivität so wichtig ist:
Das ist die abstrakte Ebene der beiden Begriffsdefinitionen.
Doch was bedeutet das, bezogen auf Organisationen und Produktteams, konkret?
- Unten links: Die Falle, in der sich die meisten traditionellen Unternehmen befinden. Keine Agilität und kein Mut, Dinge kontrastreich zu ändern. Nichts geht wirklich voran. Ich nenne den Quadranten die “Tradition-Trap” weil nichts geändert wird.
- Oben rechts das exakte Gegenteil: Die Champions, Vorzeigebeispiele, Best-Practices und schimmernden Sterne der kontinuierlichen Produktinnovationen. Fast jede Branche hat so einen Vorzeigebeispiel für einen Digitalen “Growth-Star”. Sie iterieren und optimieren schnell und bringen gleichzeitig im Quartalsrhythmus kontrastreiche Innovationen auf die Straße.
- Oben links: Es war schwer, konkrete Beispiele für “etwas mutigere” aber dennoch traditionelle Unternehmen zu finden. BMW hat zum Beispiel mit dem i3 schon vor Jahren eines der ersten deutschen Elektroautos gebaut – eine kontrastreiche Innovation – aber leider daran seither wenig verbessert, da es seither keine effiziente Weiterentwicklung in Form von Innovationszyklen gab. Ich nenne diesen Quadranten die “Perfection-Trap”, denn es ist letztlich fehlende Effizienz bei der kontinuierlichen inkrementellen Weiterentwicklung, die hier fehlt.
- Unten rechts: Die nach Effizienz strebenden Organisationen, die zwar kontinuierlich an ihren Produkten arbeiten und “streamlinen” aber derart auf Delivery fokussiert sind, dass ihnen die relevanten kontrastreichen Produktinnovationen verloren gehen. Dieser Quadrant wurde von Melissa Perri bereits “Build Trap” getauft – ich borge mir diesen Namen einfach von ihr.
Die vier Felder in Bezug auf Vitalität und Wachstum der Organisation:
Erklärung: Mozilla veröffentlicht im Monatstakt Updates ihres Produktes “Firefox”, bewegt sich aber am Markt nicht signifikant voran. Dropbox veröffentlicht ebenso schnell kontrastreichere Innovationen – kommt aber auch nicht weiter. Zuletzt musste das Unternehmen sogar einen Umsatzrückgang verzeichnen. Von Nokia müssen wir nicht sprechen, VW hat sehr spät auf Elektromobilität reagiert und wird langsam schneller als BMW – hat aber bisher außer dem E-Golf und dem eUp noch kein EV auf der Straße. Eventuell tauschen BMW und VW auch bald Plätze oder BMW ist schon längst wieder nach unten gerutscht – wer weiß das schon so genau.
Ich hoffe aber, die Illustration gibt dir ein grobes Verständnis der drei “Todeszonen”, du kannst ja aus Spaß mal die jeweiligen Wachstumsraten der Unternehmen im Internet recherchieren.
Woher kommt das? Immer wieder ist von Innovations- und Fehlerkultur die Rede. Wir haben diese Faktoren erst kürzlich selbst auf internationaler Ebene untersucht.
In unserem internationalen Netzwerk, der GO>Group haben wir gemeinsam mit den Kollegen aus USA, UK und Australien in einem standardisierten Fragebogen die Kultur des Experimentierens im Gegensatz zum Perfektionismus analysiert. Es ist kein Wunder, dass Deutschland signifikant auf dem letzten Platz gelandet ist. Laut Forrester wachsen die Growth-Stars pro Jahr um ca. 1.1 Billionen US Dollar Umsatz schneller als die paralysierten Organisationen in den anderen Quadranten, in Deutschland scheint es eine besonders hohe Anfälligkeit für kulturelle Defizite zu geben.
Für dich äußert sich das Problem in Form der oben beschriebenen Symptome, die sich eventuell wie eine Tretmühle anfühlen – für die Organisation als Ganzes ist das Problem hingegen eine ernstzunehmende Bedrohung.
Shareholder und Top-Management sind sich dieser Misere durchaus bewusst und machen daher noch mehr Druck. Sie wollen mit aller Kraft “nach oben” – dabei machen sie das Problem damit noch schlimmer.
“Agile” wird als Heilsbringer gesehen.
Roadmaps und Meilensteine werden vorgegeben, viele Innovationen und Feature-Ideen sind auf einmal “strategisch gewünscht”, es geht um Monetarisierung und die ganze Unternehmensstrategie.
Traditionelle Führung trifft auf neue Paradigmen.
Das Problem an dem Problem: Output vs. Outcome
“Viele Produktteams sind Featureteams und produzieren Output aber keinen Outcome.”
Rainer Gibbert – Leitung Privatkunden starfinanz, Gründer und Autor produktbezogen
Die Produktwelt diskutiert bereits länger das “Output vs. Outcome” Problem, Marty Cagan hat zum Beispiel Ende 2018 sein Konzept der “Empowered Product Teams” veröffentlicht. Melissa Perri spricht von der Build Trap, John Cutler spricht von der “Feature Factory”. Im Grunde geht es darum, dass die Produktteams überhaupt keinen echten Wert produzieren (Outcomes) sondern eben nur Features (Output).
“Je reifer die Produktorganisation, desto schwieriger der Spagat zwischen Agiler Produktwelt und Growth. Startups, die noch auf einer grünen Wiese agieren, können aufgrund weniger Abhängigkeiten effektiver operieren.”
Rainer Utsch – Vice President Product, auxmoney
Als Optimierer und Unternehmer, angetrieben von einem (hoffentlich) gesundem Menschenverstand und nicht von irgendeiner Lehre oder Ideologie, war mir selbst lange nicht klar, wie so etwas passieren kann.
Mit wenigen Experimenten und einer systematischen Analyse (aka “Product Discovery”) gelingen mir und meinem Team fast immer zweistellige Uplifts innerhalb von maximal 2 Quartalen – maximaler Outcome, maximale Effektivität.
Woran liegt das?
Ist der Blick, den Growth-Hacker, Optimierer und externe Berater haben einfach hilfreicher?
Nein, nicht zwingend.
Auch diese Methodik würde unter einer Skalierung leiden. Aber es ergibt Sinn darüber nachzudenken, welche Erfolgsfaktoren aus der Optimiererwelt in der Welt agiler Produktteams helfen können, ebenfalls mehr Outcome zu produzieren. Vielleicht fehlt dem Management nur ein Indikator oder das Gefühl und Vertrauen, dass die Produktteams grundsätzlich Outcomes liefern können?
“Nachhaltige Wege heraus aus der Misere finden nur diejenigen, die die eigentliche Herausforderung durchdringen und dazu passende Lösungen erarbeiten.“
André Morys, der sich in seinem eigenen Blogpost selbst zitiert.
Kann man also die agile Produktwelt mit der Optimierer-, A/B-Test- und Growth-Hacking Welt verbinden? Das thematisieren wir unter anderem in einem Videokurs des Ambassador Programms. Das Programm ermöglicht dir zudem regelmäßigen Austausch mit anderen Fach- und Führungskräften über Agilität in Teams. Bewirb dich jetzt, um deine Erfahrungen zu teilen!
Entdecke im zweiten Beitrag unserer Agile-Serie die 5 Kernproblemfelder und Lösungen, wie du für mehr Effektivität in agilen Produktteams sorgst.
2 Kommentare
Alex,
Sehr guter und interessanter Artikel. Dank auch für die Erklärung des Begriffspaars Effizienz-Effektivität. Vielleicht als Impuls: Unten rechts in der “Build Trap”findet man auch oft ein “Macher-Paradox”. Die Orga ist meist sehr busy und hochgradig ausgelastet. Viele “Einfach mal machen”-Typen. Viel Geschäftigkeit und Dynamik. Aber am Ende kommen irgendwelche Sachen auf die Strasse, die bis auf Abtragen von technischer Schuld und Aufhübschen von Hygienefaktoren wenig bringen. Und die Kundin sieht auch immer weniger davon. Wäre für mich der schlimmste Quadrant, weil man die Stagnation meist vor lauter Wusseligkeit gar nicht merkt. Wünsche schon jetzt ein schönes Wochenende! Grüße
Nicolas Meriel,
super Artikel – sehr treffend und (leider) so wahr.
Merci!