Der geheime Quadrant hoher Conversion Rates (und weniger guter UX)
Was ist eigentlich das wahrhaftige und primäre Ziel eines Unternehmens? Umsatz? Wachstum? Wertschöpfung? Nein. Das Prinzip funktioniert anders herum. Umsatz und Wachstum sind die Folge des eigentlichen Ziels und das lautet: Kundennutzen. Also lautet die einfache Formel: Zufriedene Kunden bestellen – und sorgen für Umsatz und Wachstum, oder?
Nein, ganz so einfach ist es leider nicht. Ich erinnere mich an einen Workshop, bei dem die Mitarbeiter unseres Kunden von einem A/B-Test berichtet hatten.
(Wer kennt sie nicht, diese nervigen Quälgeister? Gefunden bei thebestofemail.com)
Das Resultat war ganz einfach:
Ein (störendes) Layer sorgt für 4,3% mehr Bestellungen.
Wie kann das sein? So etwas nervt doch alle! Auch der UX Kollege war empört, als es darum ging, diesen Affrond online zu stellen.
“Das können wir nicht tuuuuun!”
(Dabei verstummte sein letzter Vokal in einem Nachhall der Verzweiflung…)
Können wir es tun?
Ich erinnere mich an eine Case-Study, die ich vor einiger Zeit auf der emetrics präsentiert hatte. In einem unserer MotivationLabs® hatten wir heraus gefunden, dass ein selbst startendes Video (mit Ton) 100% aller User nervt – und zwar so richtig.
Im A/B-Test kam allerdings heraus, dass dieses Video die Konversionsrate signifikant im zweistelligen Bereich erhöht hatte.
Was tun?
Für einen E-Commerce-Kunden testeten wir ebenfalls Videos auf Produktseiten, die in einer Variante auch automatisch starteten. Das Resultat war nicht verblüffend: Diese Variante gewann deutlich – sowohl gemessen an der Sales Conversion Rate als auch am Revenue. Doch leider standen die Telefone im Call-Center wegen verärgerter Kunden nicht mehr still.
Was also tun?
Sind wir auf dem Pfad der “Untugend”? Ist es böse, Videos starten zu lassen, wenn es mehr Umsatz bringt?
Nein, es ist nicht böse.
Es ist nur eventuell dumm und kurzsichtig gedacht.
Denn es schadet eventuell auf lange Sicht der Marke. Und dieser Schaden ist wahrscheinlich deutlich höher als der kurzfristige Gewinn an Conversion Rate.
Deshalb wäre es einfach unklug, einzig und allein die Conversion Rate als primäres Ziel zu definieren.
WAS ALSO TUN???
(Ich weiß, ich habe die Frage noch nicht wirklich beantwortet…)
Sofern wir das Gefühl haben, dass unsere Veränderungen tatsächlich die Nutzer- oder Kundenzufriedenheit senken könnten, müssen wir genau diese Zufriedenheit ebenso messen, wie die Conversion-Rate. Nur so können wir nach einem Experiment sauber abwägen, welche Variante wirklich die bessere wäre.
Ich habe die Möglichkeiten mal in einem Quadrantenmodell zusammen gefasst:
Oben rechts ist der “normale Bereich”, in dem fast alle Optimierer arbeiten – getreu dem Motto: Was dem Nutzer besser gefällt, konvertiert auch besser. Wer intensiv mit A/B-Tests arbeitet der wird sehen, dass die zu erzielenden Uplifts hauptsächlich davon abhängen, wie schlecht die Seite vorher war.
Leider sind nicht viele Seiten wirklich schlecht. (Außer die von Dell vielleicht).
Unten links ist genau dieser Bereich, in dem wir Seiten wie die von Dell mit einfach schlechter Usability finden. Diese Seiten machen so viel falsch, dass dies zu einer schlechten User Experience und zu einer niederigen CR führt. (Es gibt davon aber immer weniger – selbst die Website der Bahn ist inzwischen aus diesem Quadranten fast heraus gekommen.)
Oben links ist ein Bereich, den viele Optimierer in Form schlechter Resultate kennen: Zu viele Gütesiegel, ein überflüssiger Hinweis auf die Datensicherheit, eine Sektion mit häufigen Fragen und – schwupps – ist die Conversion Rate dahin. Warum? Weil die “gut gemeinten” Inhalte in Wirklichkeit nur Bedenken der Nutzer angetriggert haben, die vorher gar nicht da waren. Oder weil Elemente abgelenkt haben. Es gibt viele Gründe für “gut gemeinte” Optimierungen.
(Gut gemeint, aber zu viele Fragen über (Un-)Sicherheit im Warenkorb lenken ab und senken die CR)
Unten rechts ist schließlich der schädliche Bereich der Dark Patterns, der Manipulation, Täuschung und Lüge. Hier wird gegen den Kunden gearbeitet – das kann langfristig nicht gut gehen.
(Auf darkpatterns.org finden sich Beispiele wie dieses von Ryan Air, bei dem die “Keine Versicherung” Option geschickt in einer Länderauswahl getarnt wird, um zusätzliches Geld durch Täuschung zu verdienen)
OK, es gibt also die Wahl zwischen geringer Wirkung, (seltenen) Low Hanging Fruits, keiner oder negativer Wirkung sowie Beschädigung der Marke?
Klingt wie Pest, Cholera, Keuchhusten und Masern.
Ich bin sicher, es gibt ein weiteres Feld:
Dieses kleine grüne Feld ist der Bereich, über den sich alle Beteiligten immer wieder streiten. Zum Beispiel, wenn es um Seiten wie diese hier geht:
Noch 8 Zimmer.
Heute 24-mal gebucht.
2 Hotels sind schon ausverkauft.
Es sehen sich gerade 9 Personen dieses Hotel an.
SEHR GEFRAGT!
LASST MICH DOCH IN RUHE MIT EURER PANIKMACHE, IHR &%$!#!!!
Dummerweise weiß booking.com ganz genau, wann sie die “rote Linie der schlechten User Experience” wirklich übertreten. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Websites fragt booking.com ständig nach, wie zufrieden der Nutzer war – zum Beispiel hier direkt auf der Bestätigungsseite:
Auch um Feedback über das Hotel zu bekommen, sucht booking.com ständig den Kontakt:
Besonders clever: ich werden bei der Buchung gefragt, wann ich einchecken werden. Etwa eine Stunde nach dieser Zeit erhalte ich eine Nachricht, die mich bittet, den Check-in zu bewerten.
Auch wichtig: Alle Befragungen bei booking.com sind sehr einfach gehalten:
Wer wirklich effektiv optimieren will, muss genau wissen, wie weit er gehen darf.
booking.com macht nichts anderes, als den “Sweetspot” zwischen optimaler User Experience und maximaler Conversion Rate zu suchen. Und dies tun sie nicht auf Basis von Vermutungen – sondern mit Hilfe von Daten. Damit sparen sie sich viel Zeit für unnötige Diskussionen.
Vor allem aber sparen sie sich Optimierungen, die langfristig der User Experience und damit der Marke schaden.
So kommt booking.com in den sinnvollen Bereich dieses zusätzlichen Quadranten – den man ohne Abfrage der Nutzerzufriedenheit jedoch nicht betreten sollte…
Fazit:
- Optimierungen können gefährlich werden, wenn sie der User Experience und damit der Marke schaden
- Viele Diskussionen darüber werden leider subjektiv geführt
- Besser ist es, die Nutzerzufriedenheit, wie bei booking.com in Form eines NPS Scores abzufragen
- Experimente sollten beide Kennzahlen (CR / Zufriedenheit) gegenüberstellen um den “Sweet-Spot” zu finden
3 Kommentare
Mario Burgard,
Wenn ich mehr darüber nachdenke, wie ich nützlich sein kann und weniger meine Vorgehensweise versuche mit Wortphrasen und (leider) oftmals auch Worthülsen zu bezeichnen, dann rutscht der “große Plan” vom Kopf in den Bauch. Oder ins Herz… Also dort, wo Beziehung stattfindet.
Ich muss den Beitrag nochmal komplett durchlesen. Coole Sache einfach.
Andre,
Richtig cooler Artikel – danke!
Birgit,
Interessante Ansicht und ein sehr ausführlicher Artikel, der die wichtigsten Punkte beleuchtet!