Behavioral Science

Neues aus der Optimierungsanstalt: Psychologische Prinzipien im Einsatz

 Lesezeit: 8 Minuten    
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Moderne Ansätze zur Optimierung interaktiver Angebote müssen in einem Umfeld zwischen wachsender Konkurrenz, datengetriebenem Controlling und immer komplexeren (neuro)wissenschaftlichen Ansätzen bestehen. Wie kann die Vielzahl von Empfehlungen für den Einsatz  konsum- und kognitivpsychologischer Effekte bewertet werden? Welche eher unbekannten Wirkprinzipien aus der psychologischen Grundlagenforschung lohnt es sich für den Einsatz im Marketingalltag zu betrachten?

Tools versus Voodoo

Man könnte meinen, die Optimierung von interaktiven Angeboten habe sich in den letzten Jahren in zwei Richtungen bewegt: Auf der einen Seite hin zu einer starken, toolgetriebenen Professionalisierung. Immer mehr Entscheider im Onlinemarketing verstehen die Notwendigkeit, vorhandene Trafficströme besser zu konvertieren.

Seriöse Anbieter wollen Ihren Nutzern zu einem funktional wie emotional möglichst optimalen Nutzungserlebnis verhelfen und sich gleichzeitig gegenüber dem immer stärkeren Wettbewerb abgrenzen und diesen dominieren. Es existieren in unserer im Vergleich eher jungen Disziplin inzwischen eine Menge Anleitungen, Best Practices und Studien zur Conversionoptimierung – viel Stoff für Optimierungsansätze. Jedoch wollen diese immer kontextabhängig verstanden werden!

Studien und Cases richtig bewerten

Mit fortschreitender Entwicklung werden andererseits jedoch bestehende Modelle und Technologien in größerem Maße diskutiert und kritisiert. Hier sei auf die immer wieder hochkochende Diskussion über die Aussagekraft verschiedenen Testmethoden und ihrer statistischen Aussagekraft verwiesen. Viele Best Practices, Studien und Cases (besonders immer dann, wenn mit einer eher  banalen Maßnahme “gigantische” Verbesserungen der KPIs erzielt wurden) sollten mit Vorsicht genossen werden.

Testing-Methoden sollten daher immer möglichst wissenschaftlichen Anforderungen genügen (sofern möglich). Das große Versprechen aus super-erfolgreichen Tests hinterlässt sonst schneller als gedacht lange Gesichter. Nämlich dann, wenn sich Testergebnisse nicht 1:1 in langfristigen Zielerreichungen im “wahren Leben” niederschlagen.

Besonders intensiv werden diese Diskussionen im Bereich der (gar nicht so neuen) Neuromarketing-Disziplin geführt. Durch die Verknüpfung von modernen bildgebenden neurologischen Verfahren und Konzepten aus Sozial-, Kognitiver- und Verkaufspsychologie soll endlich die Block Box im Kopf der Konsumenten überwunden werden.

Dies stößt jedoch im tagtäglichen Fronteinsatz auf die ein oder andere Schwierigkeit: Psychologische Theorien und Konzepte sind nun mal dass, was sie sind: Theorien. Ob eine Theorie aus der psychologischen Grundlagenforschung auf den jeweiligen Anwendungsfall sinnvoll anzuwenden ist – davon kann (leider) nicht ausgegangen werden.

Beispiel für den kontextsensitiven Einsatz: Der Decoy-Effekt

Ein Beispiel: Sie kennen doch sicher den Decoy-Effekt (auch: asymmetrische Dominanz) – ein Produkt/ eine Dienstleistung wird mit einem oder mehreren “Köderprodukten” preislich so eingerahmt, dass das eigentlich abzuverkaufende Produkt von Nutzer implizit am häufigsten gewählt wird. Weil es salopp gesagt gefühlt den größten Preis/Leistungs-Nutzen für die User bringt und gegen ein (höherpreisiges) Produkt funktionell gleichzusetzen oder besser ist.

Ein klassisches Einsatzgebiet für Köderprodukte sind Abonnements:

Im klassischen Verständnis braucht es drei Produkte für den Decoyeffekt - stimmt nicht ganz. Auch zwei Produkte mit einem schwachen Premiumangebot können zu einer Aufwertung des Basisproduktes (Absatzziel) führen, hier bei BILD.
Im klassischen Verständnis braucht es drei Produkte für den Decoyeffekt – stimmt nicht ganz. Auch zwei Produkte mit einem schwachen Premiumangebot können zu einer Aufwertung des Basisproduktes (Absatzziel) führen, hier bei BILD.

 

Der Effekt basiert auf dem psychologischen Konzept des “Framings” – Die Interpretation einer Botschaft ist immer abhängig vom umgebenden Kontext (Rahmen). So können Botschaften (Produktangebote) in einem Erfolgs- oder Verlustframe eingebettet sein.

Machen Sie sich doch keine Sorgen, es kann nichts passieren... Außer Brand, Wasser, Katastrophe! Versicherungen arbeiten oft mit negativem Framing, um implizit das starke Bedürfnis nach Schutz auszulösen.
Machen Sie sich doch keine Sorgen, es kann nichts passieren… Außer Brand, Wasser, Katastrophe!
Versicherungen arbeiten oft mit negativem Framing, um implizit das starke Bedürfnis nach Schutz auszulösen.

In hochkompetitiven Umfeldern wie dem Markt für Consumer Electronics oder Mobiletelefone hingegen ist die Erfolgsframe-Strategie erfolgreicher: Welche Features des Produktes machen es dominant gegenüber dem Wettbewerb, zu einem “Must-Have”?

Wirkprinzipien nicht blind einsetzen!

Allerdings funktioniert dieses Prinzip längst nicht mit allen Produkten oder Dienstleistungen.

Ich wage zu behaupten, dass der Decoy-Effekt nur auf einem sehr schmalen Band von Angeboten sinnvoll eingesetzt werden kann. Klar abgrenzbare Nutzenversprechen, mittleres Preissegment bezogen auf den Markt für das Produkt, hoher Umschlag, beratungsintensiv – so könnte ein theoretisch aussichtsreiches Angebot aussehen. Und nicht nur der Markt, die Angebotsstruktur oder der Nutzungskontext können die Wirksamkeit der psychologischen Trickkiste aushebeln. Auch Dinge wie die tatsächliche Gestaltung von optimierten Varianten können darüber entscheiden, ob der Einsatz konsumpsychologischer Konzepte Mehrwert erzeugt.

Im folgenden sollen zwei weniger bekannte, aber für Onlinemarketing interessante und einsetzbare Effekte vorgestellt werden. Beachte allerdings: Arbeite mit Maß und Sinn! Wie einleitend dargestellt sind Umgebungsvariablen und Nutzungskontext immer zu beachten.

Der IKEA-Effekt

Erstmals wissenschaftlich untersucht und begrifflich geprägt wurde der IKEA-Effekt von Michael Norton (Harvard).

Zugrunde liegt die Frage, warum ein Unternehmen, dass Menschen eine halbfertige Ware zu einem nicht umbedingt günstigen Preis nach Hause schleppen und mit Schweiss und Tränen selbst zusammen bauen lässt, zum erfolgreichsten Möbelhändler der Welt werden kann.

Psychologisch lässt sich das ganz einfach erklären: Selber machen erhöht Bindung! Das bedeutet: Ein Produkt/eine Dienstleistung, an deren Entstehung man (in der Eigenbetrachtung) entscheidend mitgewirkt hat, wird ein größerer Wert zugeschrieben als einem “einfach so” gekauften Fertigprodukt. Wie gut dieses Konzept im Marketing funktionieren kann, zeigt neben IKEA die Werbung einer großen deutschen Baumarktkette. Wer ist nicht stolz darauf, wenn er sein eigenes Projekt abgeschlossen hat und dies stolz dem Nachbarn unter die Nase halten darf?

Wie kann nun dieser gut empirisch belegte Effekt aufs Onlinemarketing übertragen werden? Ein großes Schlagwort der letzten Jahre im Onlinemarketing war Gamification. Die emotionale Bindung an eine Marke oder ein Produkt über den spielerischen Umgang mit denselben wird schon an vielen Stellen für Absatzsteigerung und Kundenbindung gebraucht.

Gute Beispiele für Kundenbindung über Gamification und den darunter liegenden IKEA-Effekt lassen sich im großen Feld der Produktkonfiguratoren finden. Converse.com bietet einen opulenten Schuhkonfigurator, der in der Benutzung wirklich Spaß macht und mir mein Sneaker-Unikat garantiert – sehr schön umgesetzt.

IKEA für Schuhe bei converse.com: Großartig umgesetzer Schuhkonfigurator für den absolut individuellen Sneaker. Einzig an der Lieferzeit könnte man wohl noch schrauben.
IKEA für Schuhe bei converse.com: Großartig umgesetzer Schuhkonfigurator für den absolut individuellen Sneaker. Einzig an der Lieferzeit könnte man wohl noch schrauben.

Chancen & Risiken des Eigenbauprinzips

So manch einer wird denken, “Gamification? Gähn, alter Hut!”.  Der Mitmach-Ansatz kann jedoch noch viel weiter gedacht werden. Ausgeweitet beispielsweise auf jegliche Art von Formularen, Checkout-Prozessen und Architekturen wie Filter und facettierte Suchen. Jedes dieser Elemente kann in verschiedenen Ausprägungen entworfen sein. Auf einer Skala zwischen “Oh mein Gott, hier funktioniert ja gar nichts!” und “Wow, sowas kann ja wirklich Spaß machen!” – wo würden Sie sich im Idealfall positionieren?

Achten Sie also bei allen interaktiven, produktbezogenen Elementen auf

  • Ease of Use: Möglichst einfache Bedienung, die wirklich JEDER nachvollziehen kann. Auch auf dem iPad oder Smartphone.
  • Joy of Use: Man muss sich nicht totlachen, Nein. Allerdings kennt wohl jeder von uns dieses stimulierende Gefühl, von tollen, unerwarteten Funktionen überrrascht zu werden, die eine Interaktion einfacher machen und einfach “flutschen”.
  • Vermeidung von Ablenkung und Reibung: Übertreiben Sie es nicht! Wird es zu komplex, um die Ecke gedacht oder langwierig in der Nutzung, verliert der Nutzer schnell das Interesse und ist genervt. Dies kann wiederum zum Reaktanzeffekt führen. Lassen Sie es nicht drauf ankommen, bitte. Ein Zitat sollte genügen: “Typisch für die Reaktanz ist eine Aufwertung der eliminierten Alternative, d. h. gerade diejenigen Freiheitsgrade, die der Person genommen wurden, werden nun von dieser als besonders wichtig erlebt.”

Rezenzeffekt

Listen sind im Onlinemarketing allgegenwärtig. Kaum eine Landing Page, die nicht Schlüsselvorteile eines Angebots mit grünen Häkchen versieht und auf Kundenfang geht. Das macht ja auch Sinn, wichtige Informationen sollten in einfach erfassbaren und gut strukturierten Informationseinheiten vorgehalten werden. Doch kann neben der optimalen Darstellung die Reihenfolge eine extrem wichtige Rolle in der Dramaturgie eines Angebotes spielen.

Einfach ausgedrückt: Der Rezenzeffekt besagt, das später präsentierte Reize in der Dekodierung und Bewertung eine größere Rolle spielen können als Reize, die am Anfang (einer Liste, einer Seite, einer Customer Journey…) präsentiert wurden.

Nicht umsonst existiert im klassischen Verkaufsgespräch die Regel, die wichtigste Information (besonders bei beratungsintensiven Kunden) am Ende des Prozesses zu nennen, der sogenannte “Closer”. “Am Ende geht es doch um die Qualität” – wer diesen Satz hört, wird den anfangs störenden höheren Kaufpreis beim Mittelklassewagen automatisch ein kleines Stückchen weniger wichtig nehmen.

Verschießen Sie nicht (gleich) Ihr Pulver!

Die Dramaturgie innerhalb einer Informationsarchitektur ist wichtig – während in Navigationskonzepten die relevantesten Inhalte ganz nach vorne gehören, kann in einer Informationsdramaturgie die gewichtigste Information, der Closer, in der Reihenfolge ruhig erst später auftreten. Das gilt besonders für beratungsintensive Produkte, die nicht nur über den Preis entschieden werden.

Fazit

Der wohl wichtigste Punkt: Grundlagenforschung bleibt Grundlagenforschung! Nicht jeder als Heilsbringer angepriesene, irgendwann im Labor entdeckte psychologische Effekt kann ohne Anpassung und Kontextbetrachtung im Onlinemarketing eingesetzt werden. Oft sind solche Effekte nur in streng kontrollierten Laborbedingungen nachweisbar und replizierbar – und damit sehr weit von einer Generalisierbarkeit entfernt. Die stärksten Effekte werden oft schon seit langen Jahrzehnten im klassischen (und besonders im Dialog- und Point-of-Sale-Marketing) eingesetzt und funktionieren dort sehr gut. Schon mal die teuerste Schokolade ganz unten im Regal gefunden?

Doch machen Sie Ihr Produkt nicht zur digitalen Bückware! Der Einsatz der erwähnten Konzepte (allein die Anzahl der verschiedenen kognitiven Verzerrungen ,”Biases”, ist inzwischen in der Fachliteratur wohl dreistellig) ist immer von mehreren Dimensionen abhängig:

  • Kontext: Marke, Marktumfeld, Art des Produktes, Premium oder Low Budget – unzählige Stellschrauben können die einfach gedachte Persuasion durch kognitives Voodoo schnell zunichte machen.
  • Gestaltung: Neben einer gewissenhaften Analyse des Status Quo kann jede Optimierungsmaßnahme nicht nur falsch, sondern auch in unzähligen Variationen umgesetzt werden – Ihre Liste kann noch so gut sortiert sein, wenn sie durch ein aufmerksamkeitsstarkes, aber unrelevantes Element entwertet wird.
  • Gesunder Menschenverstand: Laufen Sie nicht immer der neuesten Sau nach, die durchs Dorf getrieben wird. Bleiben Sie aber auch nicht stehen und stecken den Kopf in den Sand.

Über den Autor

Mitarbeiter Alexander Staats

Mitarbeiter

Alexander Staats beschäftigt sich als Informationswissenschaftler mit dem interdisziplinären Blickwinkel auf Evaluationsmethoden und deren Erkenntnisgewinn für die Conversion-Optimierung. Als Google AdWords-Professional und Konzeptioner ist ihm eine ganzheitliche und prozessbezogene Sichtweise auf Optimierungsmaßnahmen wichtig.
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3 Kommentare

  1. Gravatar

    Achim,

    Hi Alexander,

    verdammt guter Artikel 🙂

    Vom Rezenseffekt halte ich sehr viel. Aus meiner Sicht wird bei der Webkonzeption noch viel zu wenig die Dramaturgie des Verkaufsgesprächs berücksichtigt.

    Zum Decoy-Effekt möchte ich noch anmerken, dass sich Versicherungen durchaus auch eines Erfolgs-Frames bedienen. Berechne dir mal bei der CosmosDirekt den Beitrag für eine Autoversicherung oder auch für andere Produkte 😉

    Weiter so!

    VG

  2. Gravatar

    Lothar Seifert,

    Hallo Alexander, vielen Dank. Der Artikel sagt kurz und präzise, auf was es ankommt. Vor allem gibt mir zu denken, dass man sein Pulver nicht gleich am Anfang verschießen soll. Für mich stand bisher fest, so viel wie möglich an den Anfang zu stellen. Mit dem Problem der Überladung. Schwierig ist für mich vor allem, es jedem Recht machen zu wollen. Der eine Kunde möchte viel und ausgiebig lesen, der andere will nur schnell weiter auf die nächste Seite.

    Viele Grüße

  3. Gravatar

    Daniel Hüpenbecker,

    Wieder mal Lesestoff mit vielen Denkanstößen. Ich finde es in der Praxis auch enorm schwer abzuwägen welche Methoden, Mittel und Wege man wählen und gehen soll. Solche Artikel schaffen es dann immer einen von der totalen Ideenüberflutung zurück auf den Boden zu holen und den gesunden Menschenverstand walten zu lassen, alles ruhiger anzugehen und nicht zu versuchen alle potentiellen Einflussfaktoren auf einmal zu manipulieren.

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