Online-Markenwahrnehmung: Erkenntnisse aus der Psychoanalyse
Die amerikanischen Sozialpsychologen Josef Luft und Harry Ingham “entdeckten” bereits 1955, dass es spezifische Verhältnisse unbewusster Persönlichkeits- und Verhaltensmerkmale zwischen einem Selbst und Anderen (Gruppen) gibt. Mit Hilfe einer “Fenster-Metapher” (Johari-Fenster) wollten die Forscher dieses Verhältnis und die der Person zu Grunde liegenden Verhaltensmuster symbolisch aufzeigen. Luft und Ingham unterteilen dabei ein Rechteck in vier Felder um die Unterschiede zwischen einer öffentlichen Preisgabe des eigenen Selbst, der unbewussten, aber der Öffentlichkeit zugänglichen Preisgabe (blinder Fleck) und geheimen bis unbekannten Informationen darzustellen.
Als ich zum ersten Mal im Rahmen einer Schulung Bekanntschaft mit dem “Johari”-Fenster machte, war ich begeistert und mit Feuereifer machte ich mich daran – mit Hilfe anderer – meinen “blinden Fleck” zu entdecken, also jene Schwächen (oder Stärken) von mir, die ich selbst nicht – andere aber sehr wohl wahrnehmen können. Ob es meine am Ende Persönlichkeit wirklich weitergebracht hat, vermag ich nicht zu sagen, immerhin hat es mir geholfen einen ganze Menge darüber zu erfahren, welche Wirkung ich auf andere habe (und haben kann).
In den Jahren danach habe ich immer wieder Unternehmen kennengelernt, die Probleme mit Ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung in Bezug auf Ihre eigene Identität im Netz, aber auch in der Gesamtwahrnehmung der eigenen Marke haben. Die Ähnlichkeit dieser Wahrnehmungsstörung auf einen Brand, einer Marke mit den Selbst- und Fremdbildstörungen eines menschlichen Individuums war frappierend. Dennoch wäre es mir nie in den Sinn gekommen, das Johari-Modell mit Unternehmensauftritten in Beziehung zu setzen – denn wer will schon Elemente aus der Psychologie, mit einem individuellen Bezug zu realen Personen mit gesichtslosen, multifunktionalen Firmenkonstrukten gleichsetzen?
Aber dann – eines Tages – kam alles ganz anders: Es begann mit einer Usability-Untersuchung eines Unternehmens aus der Reisebranche, einem ehemaligen Branchenkrösus mit einer loyalen bis zwangsloyalen Zielgruppe. Die Probanden hatten die Aufgabe die Website des Unternehmens mit Hilfe unterschiedlicher Aufgaben zu durchsuchen, Informationen zu sammeln, Tasks abzuarbeiten und die Site an sich zu bewerten. Wir wussten schon im Vorfeld, das die eine oder andere typische Nielsen-Schwäche zutage treten würde, aber wir waren nicht vorbereitet auf die Ausbrüche die kommen sollten. Das Ergebnis war eine schier unglaubliche, wütende bis hasserfüllte Eruption an negativen Emotionen und Ablehnung gegenüber dem Unternehmen. Beinahe kein Proband war von diesem Negativ-Tsunami ausgeschlossen.
Noch erschreckender aber war – für mich – der Eindruck den die Emotionen der Probanden auf das Führungsteam des Reisedienstunternehmens selbst machte. Die pure Überraschung gemischt mit Entsetzen und Unglauben. Es schien so als hätten wir einen gigantischen blinden Fleck entdeckt, dessen Existenz sich das Unternehmen nie bewusst war, obwohl sie jahrelang an ihrem Internetauftritt “gebastelt” hatten und obwohl sie hunderte von schriftlichen Umfragen zur Website und zur Marke gestartet hatten. Die ungefilterte Wahrheit trat erst durch die Usability Untersuchung zu Tage und dabei nicht nur die typischen Schwachstellen in Heuristiken wie Navigation und Struktur sondern es offenbarten sich fundamentale Markenschwächen.
Noch im selben Präsentationsmeeting setzen wir erfolgreich eine Skizze des Johari-Fensters ein um die öffentlichen, die geheimen und selbstbekannten Schwächen genauso identifizieren wie den “blinden Fleck”, alles so, als wäre das Unternehmen eine “Persönlichkeit”. Unser damaliges Fazit: Wenn ein Internetauftritt wie eine Persönlichkeit mit Eigenschaften wie “Charakter”, “Kommunikationsstärke/Schwäche”, “Offenheit”, “Transparenz und Wahrhaftigkeit” gesehen werden kann, was lag dann nicht näher als zum Beispiel auch Friedemann Schulz von Thuns “Vier-Seiten-Modell” der Kommunikation einzusetzen oder Riemann-Kreuze u.ä. aus Gruppendynamik und Psychoanalyse bekannte Messsysteme? (Anmerkung: Die interessanten Parallelen zu den vier Typologien von Riemann “Stabilität, Nähe, Distanz, Wechsel” und den von Dr. Häusel und anderen Neuro-Psychologen entdeckten Limbic-Types ist frappierend, aber dazu in einem anderen Beitrag mehr…).
Ein Beispiel: Bei Schultz von Thun ist Kommunikation zwischen Sendern und Empfängern über vier Dimensionen ausgeprägt: die Sachebene, die Appelebene, die Beziehungsebene und die Selbstoffenbarung. Es ist sehr spannend was passiert, wenn man diese Dimensionen als Layer über die Kommunikationsaussagen einer Website (ein Shop, eine Transaktions- oder Promotionseite) legt. Im Falle des genannten Dienstleistungsunternehmens waren die Schwächen in der Beziehungs- und Appellebene offensichtlich und am deutlichsten wurde dabei der Aspekt der Selbstoffenbarung. Das Unternehmen hatte es tatsächlich geschafft sich selbst als chaotisch, unnahbar und kundefeindlich darzustellen und war nicht in der Lage die eigenen “Codes” zu lesen und sich selbst objektiv betrachten zu können, sie waren Gefangene im “Blinden-Fleck-Dilemma”. Für mich die Erfahrung, dass man stets einen Dritten bitten muss, die eigene Kommunikation, den Webauftritt und den Brand stetig unter realen Bedingungen überprüfen zu lassen unabhängig davon wie “sicher” man sich in seinem äußeren Erscheinungsbild zu kennen glaubt.
2 Kommentare
Stefan Bornemann,
Hallo Matthias,
danke für Deinen o.a. Blogartikel. Besonders gut gefallen hat mir das Aufzeigen des Zusammenhangs mit demKommunikationstheorem von Friedemann Schultz von Thun.
Gruß
Stefan
Matthias Henrici,
Danke Stefan. Bisher haben wir uns etwas gescheut Schultz v. Thun u.ä. hervorragende Kommunikations- und Persönlichkeitstheoretiker in CRO und Website-Optimierungsbetrachtungen einzubeziehen, aber es gibt doch spannende Parallelen und die lohnt es aufzudecken.